Als deutsche Truppen näher rückte, sahen sie sich vor die Alternative gestellt: entweder nach der Wiederbesetzung ihrer Siedlungen durch die Rote Armee ebenfalls den Weg in die Verbannung anzutreten oder unter dem Schutz der deutschen Truppen nach Deutschland zu flüchten. Fast ausnahmslos zogen sie die zweite Möglichkeit vor und begaben sich in langen Trecks auf eine wochenlange Wanderung nach Westen. Sie wurden größtenteils im sog. Wartheland, in der Gegend um Posen und Lodz, angesiedelt, wo sie die deutsche Staatsangehörigkeit durch Einzeleinbürgerung erwarben.
Aber auch sie ereilte das Schicksal ihrer Leidensgefährten, die sich schon in der Verbannung befanden. Nach der Besetzung des Reichsgebiets durch die Alliierten Truppen durften sowjetische Offiziere und Kommissare aufgrund des Abkommens von Jalta bis zum Herbst 1945 ihre Staatsangehörigen in allen vier Besatzungszonen buchstäblich „einsammeln“ und - auch gegen ihren ausdrücklichen Willen - „repatriieren“. Nur etwa 70 000 Rußlanddeutschen war es gelungen „unterzutauchen“, vor allem in den Westzonen, wo sie und ihre Nachkommen heute noch wohnen, oder später nach Übersee auswanderten.
Insgesamt wurden in den Jahren 1941-45 rund 1,1 Millionen Deutsche aus dem europäischen Teil der Sowjetunion in Gebiete östlich des Ural verschleppt. Mit dem Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 26. November 1948 wurde verordnet, daß die Deutschen in die für sie „bestimmten Rayons auf ewige Zeiten umgesiedelt wurden“.
Zwischen Assimilierung und WiedergeburtNoch lange Jahre nach der Deportation fristeten die Rußlanddeutschen in den weiten Gebieten Sibiriens, Kasachstans und der mittelasiatischen Republiken ein Leben als Arbeitssklaven, Parias, Menschen ohne Rechte. Sie bekamen nicht einmal einen normalen Personalausweis, sondern einen „Deportierungsschein“, der sie zu „Faschisten“ abstempelte. Ihre Kinder konnten nur russische Kindergärten und russische Schulen besuchen, von einer qualifizierenden Weiterbildung waren sie weitgehend ausgeschlossen. Deutsch wurde, wenn überhaupt, nur in der Familie gesprochen,und da auch nur in der angestammten [ Mundart. In der Öffentlichkeit und am Arbeitsplatz geriet man unter Verdacht, wenn man sich der deutschen Sprache bediente. In der gesamten Publizistik wurde verschwiegen, daß es in der Sowjetunion überhaupt „eigene“ Deutsche gab. Noch bei der Volkszählung von 1979 wurden sie in der Statistik unter die Rubrik .andere Völker41 eingereiht, obwohl die 2 Millionen zählende deutsche Volksgruppe unter den über 100 verschiedenen Nationalitäten der UdSSR zahlenmäßig die 14. Stelle einnahm.
Erst 10 Jahre nach Kriegsende wurden sie durch Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 13. Dezember 1955 aus den Sondersiedlungen entlassen und von der Sonderkontrolle durch die Polizei befreit. Aber das bedeutete noch keine Wiedergutmachung, denn es hieß in demselben Dekret, „daß die Aufhebung der durch die Sondersiedlung tbedingten Beschränkungen für die Deutschen nicht die Rückgabe des Vermögens zur Folge hat, das bei der Verschickung konfisziert worden war, » ferner daß sie nicht das Recht haben, in die Gegenden zurückzukehren, aus denen sie verschickt worden sind“.
Auch der Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 29. August 1964, der die pauschalen Beschuldigungen von 1941, daß die Deutschen „Spione und Diversanten“ wären, offiziell aufhob, brachte in der Frage der Entschädigung und der Rückkehr in die früheren Wohngebiete keine Änderung. Während die Autonomie anderer deportierten Völker - Balkaren, Tschetschenen, Inguschen und Kalmücken - schon 1957 wiederhergestellt wurde, war auch jetzt von der Wiederherstellung der Autonomen Republik der Wolgadeutschen und der deutschen Rayons der Vorkriegszeit keine Rede.
So blieben die Deutschen in der Sowjetunion auch weiterhin Vertriebene im eigenen Land. Seit Beginn der 70er Jahre durften sie sich zwar wieder in allen Teilen der Sowjetunion niederlassen, und es sind auch einzelne Familien an die Wolga, in die Ukraine und andere Gebiete westlich des Ural eingesickert, aber es handelt sich in Wirklichkeit nur um kleinere Gruppen, die dem Assimilierungsdruck über kurz oder lang erliegen werden, wenn nicht bald ein Kristallisationszentrum in Form einer Autonomen Republik entsteht, wo alle Bestrebungen zur Erhaltung der eigenen Identität, der Kultur, der Sprache, der Sitten und Bräuche gebündelt und die Gebiete, in denen Deutsche in größerer Zahl geschlossen wohnen, mit allem Notwendigen zur Pflege und Fortentwicklung ihrer nationalen Eigenart versorgt werden könnten (Lehrer für den muttersprachlichen Unterricht, Lehr- und Lernmittel, Literatur, Presseerzeugnisse, Fachbücher, Rundfunk- und Fernsehsendungen, Wandertheater u. a. m.). Geschieht dies nicht, dann bleiben auch die jüngsten Versuche zur Gründung von nationalen Rayons im Altai, in der Umgebung von Omsk und neuerdings in der Südukraine in Frage gestellt. Bisher haben aber alle Bemühungen, die Wolgadeutsche Republik wieder ins Leben zu rufen, noch nicht zum Erfolg geführt.
Und die Assimilierung schreitet mit Riesenschritten voran. Gaben bei der Volkszählung von 1926 noch 95 % der Deutschen in der ganzen UdSSR Deutsch als Muttersprache an, 1959 noch 75 %, so lag die Zahl bei der letzten Volkszählung von 1989 nur noch bei 48,7 %. Bei der jungen Generation breiten sich zunehmend Mischehen aus: Nach jüngsten demoskopischen Erkenntnissen entscheiden sich etwa 70 % der deutschen Frauen und Männer im heiratsfähigen Alter für einen nichtdeutschen, meist russischen oder ukrainischen Ehepartner.
Neben dem Fehlen von deutschen Bildungseinrichtungen ist diese Entwicklung wesentlich auch darauf zurückzuführen, daß die Urbanisierung der Deutschen in den letzten Jahrzehnten rasch zugenommen hat: 1914 4,4 %, 1926 15,4%, 1959 39,3%, 1989 52 %.
In Erkenntnis der schleichenden Gefahreiner Assimilierung begannen mutige Männer und Frauen der Rußlanddeutschen sofort nach der Teilrehabilitierung von 1964 mit dem Kampf für die Wiederherstellung der Wolgadeutschen Republik. Bis 1988 waren mindestens acht Delegationen, teilweise ausgestattet mit bis zu 5 000 Unterschriften, in Moskau, um bei Partei und Regierung die Wiederbelebung ihrer Republik zu fordern. Sie wurden jedesmal abschlägig beschieden oder überhaupt nicht vorgelassen.
Daraufhin gründete sich Ende März 1989 die „Allunionsgesellschaft der Sowjetdeutschen“, kurz „Wiedergeburt“ genannt (inzwischen umbenannt in .Zwischenstaatliche Vereinigung der Deutschen der ehemaligen UdSSR „Wiedergeburt“, abgekürzt ZSVD, russ. MON), um die vielerorts sich artikulierenden Autonomieforderungen zu konzentrieren und die Öffentlichkeit zu mobilisieren. Sie ist inzwischen auf 170 000 Mitglieder an
gewachsen und unterhält in allen Teilen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) Zweigniederlassungen. Ein Jahr später entstand der „Verband der Deutschen in der UdSSR“ (inzwischen umbenannt in „Internationaler Verband der Rußlanddeutschen“, abgekürzt IVRD, russ. MSRN). Beide Organisationen konkurrieren miteinander, verfolgen aber im wesentlichen dieselben Ziele: Wiederherstellung der deutschen autonomen Republik an der Wolga und Gründung von deutschen Rayons in Gebieten mit kompakter deutscher Besiedlung. Beide beteiligten sich auch an dem auf dem Allunionskongreß der Rußlanddeutschen vom Oktober 1991 gewählten „Zwischenstaatlichen Rat für die Rehabilitierung der Rußlanddeutschen“ (108 Mitglieder); (.Zwischenstaatlicher Rat der Deutschen“, abgekürzt ZSRD, russ. MGSN), der die Interessen aller Deutschen in der GUS vertreten soll.
Die Kulturarbeit wird seit 1991 von dem im selben Jahr gegründeten „Internationalen Verband der deutschen Kultur“ (IVDK, russ. MSNK) wahrgenommen, der seine Aktivitäten inzwischen auf alle Länder der ehemaligen Sowjetunion ausgedehnt hat.
Sowohl der ehemalige Präsident der UdSSR, Michail Gorbatschow, als auch der jetzige Präsident Rußlands, Boris Jelzin, haben wiederholt versprochen, die Wolgarepublik wiederherzustellen und nationale Rayons zu bilden.
Das Parlament Rußlands hat im Mai 1991 ein „Gesetz zur Rehabilitierung der repressierten Völker beschlossen. Es folgte die Wiederbelebung des 1939 aufgelösten deutschen Rayons Altai und die Gründung des nationalen Rayons Asowo in Sibirien.
Im Februar 1992 versprach der russische Präsident Jelzin in einem Erlaß die Bildung eines deutschen Rayons und eines Bezirks an der mittleren Wolga in den Gebieten Saratow und Wolgograd als Vorstufe zu einer territorialen Staatlichkeit der Deutschen.
Die deutsche Bundesregierung unterstützt die Autonomiebestrebungen der Rußlanddeutschen nach Kräften. So wurde im Juli 1992 zwischen Deutsch¬land und Rußland ein Protokoll unterzeichnet, das die etappenweise (4-5 Jahre) Wiederherstellung der Wolgadeutschen Republik vorsieht.
Aber das sind zunächst nur Versprechungen, die durch den im Dezember 1992 gefaßten Beschluß des Gebietssowjets von Saratow, in seinem Territorium keine deutsche Autonomie zuzulassen, zusätzlich in Frage gestellt werden.
Von der Ausreise zur IntegrationInzwischen haben andere Regionen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ihre Bereitschaft bekundet, bis zu einigen Hunderttausend Rußlanddeutsche aufzunehmen. Dazu gehören die Ukraine, St. Petersburg, Pskow, Ekaterinburg, Uljanowsk an der Wolga und Königsberg (nördliches Ostpreußen). Die Angebote scheinen verlockend zu sein. Daß dabei aber überall eine kräftige finanzielle Unterstützung seitens der deutschen Bundesregierung erwartet wird, läßt diese Angebote in den Augen der Rußlanddeutschen nicht uneingeschränkt seriös erscheinen.
Ob viele Rußlanddeutsche dadurch ihre Ausreiseabsicht aufgeben werden, wird wesentlich von den nächsten konkreten Maßnahmen der zentralen und lokalen russischen Behörden sowie der deutschen Bundesregierung abhängen, denn die Rußlanddeutschen begegnen allen Versprechungen mit großem Mißtrauen, das sich im Laufe der Jahre angesichts leidvoller Erfahrungen angestaut hat. Die Rußlanddeutschen sind in den mittelasiatischen Republiken Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgisien, Kasachstan einem neuen Vertreibungsdruck ausgesetzt, der durch den wachsenden Nationalismus und den immer mehr an Boden gewinnenden islamischen Fundamentalismus verursacht wird. Besonders in dem von einem blutigen Bürgerkrieg geschüttelten Tadschikistan, wo immer noch ca. 25 000 Deutsche wohnen, ist Gefahr im Verzüge. Zwar versuchen die Regierungen von Kasachstan und Kirgisien sie durch mancherlei Maßnahmen zu halten, aber das Mißtrauen der Deutschen ist nach wie vor weitverbreitet.
Deshalb brauchen gerade diese Deutschen Hilfe aus Deutschland, damit diejenigen, die bleiben wollen, ihre Zukunft als Deutsche gesichert sehen. Die aber trotzdem gehen wollen, deren Anträge auf Anerkennung als Spätaussiedler sollten beschleunigt bearbeitet werden. Und wer sich entschließt, auf ein Angebot zur Übersiedlung in ein Gebiet Rußlands oder der Ukraine einzugehen, braucht auch eine Zusage, daß er auch dann noch in Deutschland aufgenommen würde, wenn er sich am neuen Siedlungsort in seinen Erwartungen enttäuscht sähe. Das würde manchem die Entscheidung erleichtern.
Ganz gleich, wie die Entwicklung der „rußlanddeutschen Frage“ weitergeht, muß damit gerechnet werden, daß nur ein Teil der zwei Millionen Rußlanddeutschen sich zum Verbleib in den GUS-Republiken entscheiden wird.
Viele, deren Verwandte in Deutschland schon Fuß gefaßt haben, werden nach wie vor eine baldige Familienzusammenführung anstreben, andere werden nicht bereit sein, das in Jahrzehnten leidvoller Erfahrung gewachsene, tief verwurzelte Mißtrauen gegenüber staatlichen Zusagen aufzugeben und auf die Rückwanderung nach Deutschland zu verzichten. Des¬halb dürften sich die Aussiedlerzahlen der Rußlanddeutschen in den nächsten Jahren trotz aller noch so gutgemeinten Anstrengungen, ihnen Zukunftsperspektiven in den GUS-Republiken zu eröffnen, im Rahmen der Jahre 1990/91/92 halten (rund 200 000). Und dafür sollte das „Tor auch offen bleiben“, denn Deutschland hat den Rußlanddeutschen gegenüber nicht nur eine historische Obhutspflicht, sondern profitiert auch von ihrer Aufnahme.
Sie bringen Wertvorstellungen mit, die in unserer Wohlstandsgesellschaft teilweise stark in den Hintergrund gerückt sind: tiefe Religiosität, ausgeprägten Familiensinn, Bereitschaft zur Nachbarschaftshilfe, Genügsamkeit, Fleiß und Arbeitsamkeit u. a. m.
Im Unterschied zu Asylanten und Ausländern wollen sie sich hier so schnell wie möglich integrieren, aber sie kommen nicht nur als Nehmer, sie stellen in mancherlei Beziehung auch eine Bereicherung dar. Ihr über zwei Jahrhunderte bewahrtes ethnologisches Eigenleben - Brauchtum, Liedgut, Mundarten - hebt hier teilweise längst vergessenen Kulturbesitz des deutschen Volkes wieder ins Bewußtsein. In zahlreichen Veröffentlichungen rußlanddeutscher Dichter, Schriftsteller und Wissenschaftler werden Geschichte und Schicksal dieser Volksgruppe lebendig und wird die wichtige Mittlerrolle zwischen Deutschland und Rußland aufgezeigt, die die Rußlanddeutschen in der Vergangenheit wahrgenommen haben und auch in Zukunft wahrnehmen können.
In ökonomischer Hinsicht schließen die Rußlanddeutschen eine sich durch Überalterung der Bevölkerung und den gleichzeitigen Geburtenrückgang auftuende Lücke: ihr Kinderreichtum und die sich daraus ergebende günstige Bevölkerungsstruktur tragen zur Sicherung der Renten weit über das Jahr 2000 hinaus bei. Als fachlich qualifizierte und zuverlässige Mitarbeiter werden sie von Unternehmern gern eingestellt. Ihr Bestreben, möglichst schnell ein eigenes Haus zu bauen, die Wohnungseinrichtung zu beschaffen und sich mit Kleidung und Schuhwerk zu versorgen, belebt in erheblichem Umfang die Nachfrage und fördert so Industrie, Handwerk und Bauwirtschaft.
Aber die rußlanddeutschen Spätaussiedler kommen nicht in erster Linie aus wirtschaftlichen Gründen, ihr vorrangiges Ziel ist es, endlich als Deutsche unter Deutschen zu leben.
Deshalb bedeutet die Zuwanderung von einigen Hunderttausend Rußlanddeutschen pro Jahr keine Katastrophe, wie das zuweilen in der öffentlichen Auseinandersetzung dargestellt wird.
Im Gegenteil: Die Rußlanddeutschen sind für Deutschland insgesamt ein erheblicher Gewinn.
Angesichts dieser Tatsachen sollten die Rußlanddeutschen eigentlich allgemein willkommen sein. Daß dem nicht immer und nicht überall so ist, hat vielerlei Gründe.
Obwohl in Deutschland inzwischen rund 800 000 Deutsche aus Rußland leben, herrscht in der deutschen Öffentlichkeit eine weitverbreitete Unkenntnis über die Geschichte und das Schicksal dieser deutschen Volksgruppe. Einzelne Kultusministerien veranstalten zwar Schülerwettbewerbe zu Aussiedlerfragen, in den Lehrplänen und Lehrbüchern aller Schularten sucht man jedoch vergebens nach entsprechenden Themen und Empfehlungen. Wenn ein Fachlehrer einmal in seinem Unterricht auf die Rußlanddeutschen eingeht, dann tut er das aus eigenem Antrieb und auf eigene Verantwortung. Volkshochschulen und andere Einrichtungen der Erwachsenenbildung nehmen, wenn überhaupt, dann nur vereinzelt entsprechende Veranstaltungen in ihre Pläne auf. Politische Parteien, Gewerkschaften und Jugendorganisationen zeigen nur wenig Interesse daran, ihre Mitglieder über die wahre Situation der Rußlanddeutschen aufzuklären. Die Medien - Presse, Rundfunk und Fernsehen - greifen Probleme der Rußlanddeutschen nur sporadisch und meist aus akutem Anlaß auf, dringen aber nur selten tief genug in die historischen Zusammenhänge ein.
Dieser allgemeine Mangel an Interesse, Information und Aufklärung kann auch durch die von den Kirchen aller Konfessionen dankenswerterweise entwickelten vielfältigen Aktivitäten nicht ausgeglichen werden.
Daher kommt es, daß in der Öffentlichkeit, vielfach auch in Amtsstuben und an „Biertischen“, kein Unterschied gemacht wird zwischen Asylanten, Ausländern und Aussiedlern, die allgemein unter dem Sammelbegriff ,Zuwanderer“ zusammengefaßt werden.
Demzufolge wird dann auch verkannt, daß die Spätaussiedler ein verbrieftes Recht besitzen, als Deutsche im Sinne des Grundgesetzes (gemäß Art. 116, Abs. 1) aufgenommen und anerkannt zu werden. Mit Rücksicht auf die angeblich beschränkte Aufnahmekapazität und die „öffentliche Meinung“ hat der Deutsche Bundestag im Dezember 1992 trotzdem beschlossen, jährlich nicht mehr als 200 000 Aussiedler aufzunehmen. So sieht es das am 1. Januar 1993 in Kraft getretene Kriegsfolgenbereinigungsgesetz vor, das übrigens bedauerlicherweise eine Reihe von Leistungskürzungen für Spätaussiedler (neuer Terminus für Aussiedler) enthält, nachdem schon das Einwanderungs-Anpassungs-Gesetz (EAG) und das Aussiedler-Aufnahme-Gesetz (AAG) von 1990 eine Reihe von Einschränkungen für die Aussiedler gebracht hatten (s. Zeittafel).
Was also nottut, ist eine verstärkte Öffentlichkeitsarbeit in der Vermittlung der Erkenntnis, daß die Rußlanddeutschen heute noch Leidtragende des deutsch-sowjetischen Krieges sind, daß ihre Geschichte ein Teil der Geschichte des deutschen Volkes ist und daß sich daraus historische Verpflichtungen Deutschlands ergeben, die nicht abgelegt werden können, ohne gegen die Menschenrechte und die eigene Verfassung zu verstoßen
Wichtige Daten zur Geschichte der Russlanddeutschen1549 In Wien erscheinen die Reiseberichte „Rerum moscovitarum commen- tarii“ des Freiherrn von Herberstein, in denen auch „deutsche Söldner“ in russischen Diensten erwähnt werden.
1652 Gründung der „Deutschen Vorstadt“ („Nemeckaja Sloboda“) in Moskau 1703 Gründung der Stadt St. Petersburg
1727 „St. Petersburger Zeitung“, die erste deutsche Zeitung in Rußland
1763 22. Juli - Manifest der Kaiserin Katharina II., Aufruf an Ausländer zur
Einwanderung nach Rußland
1765 Gründung der Herrenhuter Gemeinde in Sarepta/Wolga
1773 Gründung der Erzdiözese Mohilew, Residenz St. Petersburg, zuständig für alle Katholiken in Rußland
1774-92 Rußland erwirbt das gesamte Küstenland am Schwarzen Meer, einschließlich der Krim.
1789 Chortitza, erste mennonitische Kolonie in Südrußland am Dnjepr gegründet („Altkolonie“).
1793 Gründung der Hafenstadt Odessa
1800 6. September - Gnadenprivileg Pauls I. zugunsten der Mennoniten
1804 20. Februar - Manifest Alexanders I., Einladung zur Ansiedlung Deutscher im Schwarzmeergebiet
1804-24 Gründung zahlreicher Kolonien im Schwarzmeergebiet durch Einwanderer aus Süddeutschland und Danzig-Westpreußen
1822 Gründung der ersten weiterführenden Schule, der „Orloffer Vereinsschule“, im Siedlungsgebiet der Mennoniten an der Molotschna
1838 9. November - Nikolaus I. bestätigt die Privilegien der Kolonisten
1842 Kodifizierung aller Freiheiten, Rechte und Pflichten der Kolonisten und Verleihung der Bürgerrechte an die Kolonisten
1863 Gründung der „Odessaer Zeitung“
1871 4. Juli - Aufhebung aller Sonderrechte der „ausländischen Kolonisten“
1874 Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, Beginn der Auswanderung nach Nord- und Südamerika
1879 7. Oktober - Deutsch-österreichischer,Zweibund“, Folge: Verschlech
terung der Lage der Deutschen in Rußland
1881 13. März - Ermordung Alexanders II., Beginn der Russifizierung unter
Alexander III.
1904-05 Russisch-japanischer Krieg. Niederlage Rußlands führt zu teilweiser Liberalisierung, dadurch neuer wirtschaftlicher und kultureller Aufschwung in den neuen Kolonien
1908 Geschlossenes deutsches Siedlungsgebiet entsteht in der Kulunda- steppe (Sibirien)
1914 1. August - Ausbruch des Ersten Weltkrieges, 300 000 Deutsche dienen in der russischen Armee. Trotzdem werden auch die „inneren Deutschen“ zu Feinden des Russischen Reiches erklärt.
1915 27. Mai - Pogrom gegen Deutsche in Moskau
2. Februar und 13. Dezember - Liquidationsgesetze
17 Abdankung Nikolaus II. (Februarrevolution), Aufhebung der Liquidationsgesetze
20.-23. April - Erster Gesamt-Kongreß der Deutschen in Rußland. Grün¬dung eines Zentralkomitees aller Rußlanddeutschen. Oktoberrevolution
1918 3. März - Frieden von Brest-Litowsk
19. Oktober - Dekret über die Gebietsautonomie der Wolgadeutschen (.Arbeitskommune“)
1924 20. Februar - Gründung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepu¬blik (ASSR) der Wolgadeutschen
1921-27 Neue Ökonomische Politik (NEP), vorübergehende Erholung in den deutschen Kolonien
1927 Letzte Siedlungsneugründung am Amur
1928 Beginn der Kollektivierung, Entkulakisierung und Schließung der Kirchen
1938 In allen deutschen Schulen außerhalb der Wolga-Republik wird Russisch bzw. Ukrainisch als Unterrichtssprache eingeführt.
1938/39 Auflösung aller deutschen Rayons außerhalb der Wolga-Republik
1939 23. August - Deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt
1. September - Ausbruch des Zweiten Weltkrieges
1941 22. Juni - Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges
Ab Juli - Deportation der Deutschen aus den westlichen Teilen der Sowjetunion
August - Beginn der Verschleppung der Wolgadeutschen nach Sibirien und Mittelasien
1944 10. April - Sowjetische Truppen besetzen Odessa, ca. 350 000 Rußlanddeutsche werden im Wartheland angesiedelt, wo sie die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten.
1945 8 Mai -Bedingungslose Kapitulation der Deutschen Wehrmacht, mas¬senweise Zurückverschleppung der Rußlanddeutschen nach Sibirien und Mittelasien
1948 26. November F Dekret des Obersten Sowjets: Verbannung auf „ewige Zeiten“
1955 22. Februar - Beschluß des Deutschen Bundestages: die im Krieg erfolgten Einbürgerungen von Rußlanddeutschen werden anerkannt.
9 -13. September - Adenauer in Moskau
13. Dezember- Aufhebung der Beschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen, keine Rückgabe des konfiszierten Vermögens, Verbot der Rückkehr in die ehern. Heimatkolonien
1957 „Neues Leben“, erste überregionale deutsche Zeitung nach dem Krieg, erscheint in Moskau.
1959 24. April - Deutsch-sowjetisches Abkommen über die Familienzusammenführung
August - Teilrehabilitierung der Wolgadeutschen und Aufhebung des Deportationsdekrets vom 28. 8. 1941
1964 19. Dezember - Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte:
1966 Recht auf freie Ausreise und Minderheitenschutz garantiert. Von der UdSSR am 23. 3. 1973 ratifiziert.
1970 12. August - Moskauer Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR über gegenseitigen Gewaltverzicht, Aussiedlerzahlen steigen.
3. November - Freie Wahl des Wohnsitzes auch für Deutsche per Dekret zugesagt, aber nicht veröffentlicht.
1972 Scheinversuch zur Gründung einer Autonomie in Kasachstan Deutschsprachiges
1979 „Dramentheater“ gegründet (zuerst in Temirtau, heute in Alma-Ata)
1981 28. August - Neues Gesetz über Ein- und Ausreise erleichtert die Familienzusammenführung, Anstieg der Aussiedlerzahlen
1986 Ende März - Gründung der deutschen Gesellschaft „Wiedergeburt“
1. Januar - Einwanderungs-Anpassungs-Gesetz (EAG)
1989 1. Juli - Aussiedler-Aufnahme-Gesetz (AAG)
1990 1. Juli - Wiederherstellung des 1938 aufgelösten deutschen Rayons Halbstadt (Nekrassowo) im Altai
1992 Gründung des deutschen Rayons Asowo/Gebiet Omsk, Bildung eines deutschen Rayons und eines deutschen Bezirks (Okrug) in den Gebieten Saratow und Wolgograd vom russischen Präsidenten Jelzin verordnet
10. Juli - Protokoll zwischen Deutschland und Rußland zur stufenweisen (4-5 Jahre) Wiederherstellung der Wolgarepublik
1993 1. Januar - Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG), erhebliche Leistungseinschränkungen für Spätaussiedler, Aufnahmequoten von ca. 200 000 jährlich
1993 26.-28. Februar - 3. Kongreß der Deutschen der ehemaligen UdSSR;
der vom Kongreß neugebildete „Zwischenstaatliche Rat der Deutschen“ wird beauftragt, ein gesamtnationales Referendum durchzuführen und die Wahl eines Volkstages (als Vorparlament) vorzubereiten.
Literatur-Auswahl
Buchsweiler, Meir:
„Volksdeutsche in der Ukraine am Vorabend und Beginn des Zweiten Weltkriegs - ein Fall doppelter Loyalität?“, Gerlingen, 1984, 499 S.Ehrt, Adolf:„Das Mennonitentum in Rußland von seiner Einwanderung bis zur Gegenwart“, Berlin/Leipzig, 1932, 175 S.Eisfeld, Alfred:„Die Rußland-Deutschen“, München, 1992, 225 S.Fleischhauer, Ingeborg:„Die Deutschen im Zarenreich“, Stuttgart, 1986, 671 S.Fleischhauer, Ingeborg/Jedig, Hugo, (Hrsg.):„Die Deutschen in der UdSSR in Geschichte und Gegenwart“, Baden-Baden, 1990, 320 S.Friesen, P. M.:„Geschichte der Alt-Evangelischen Brüderschaft in Rußland“, Verlagsgesellschaft Raduga Halbstadt, Taurien, 1911, Reprint 1992, 930 S. “Heimatbücher der Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland, Jahrgänge 1954-1991,20 BändeKahle, W.:.Aufsätze zur Entwicklung der evangelischen Gemeinden in Rußland“, Leiden/Köln 1962Kappeler/Meissner/Simon:„Die Deutschen im Russischen Reich und im Sowjetstaat, Köln, 1987, 190 S.Meissner/Neubauer/Eisfeld:„Die Rußlanddeutschen - Gestern und heute“, Köln, 1992, 290 SeitenPinkus, Benjamin/Fleischhauer, Ingeborg:„Die Deutschen in der Sowjetunion“, Baden-Baden, 1987, 599 S.Pörtner, Rudolf (Hrsg.):„Heimat in der Fremde“ - Deutsche aus Rußland erinnern sich -, Düsseldorf, 1992, 521 S.Referate der Kulturtagungen der Deutschen aus Rußland/UdSSR vom Juni 1989, Oktober 1989, Oktober 1990 und September 1991*Schippan, Michael/Striegnitz, Sonja:„Wolgadeutsche - Geschichte und Gegenwart“, Berlin, 1992, 240 S.Schnurr, Joseph:„Die Kirchen und das religiöse Leben der Rußlanddeutschen“, Evang. Teil, Verlag Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland 1978, 400 S.Schnurr, Joseph:„Die Kirchen und das religiöse Leben der Rußlanddeutschen“. Kath. Teil, Selbstverlag 1980, 416 S.*Schütz, Philipp:„Der Ruf der Zarin“, Marburg, 1989, 268 S.Steenberg, Sven:„Die Rußland-Deutschen - Schicksal und Leben“, München 1989, 207 SeitenStumpp, Karl:„Die Auswanderung aus Deutschland nach Rußland in den Jahren 1763-1862“, Tübingen, o. J., 1020 S.‘Stumpp, Karl:„Die Rußlanddeutschen - 200 Jahre unterwegs“, Freilassing, 1966, 142 S.*Tausend Jahre Nachbarschaft - Rußland und die Deutschen, Hrsg. Ost¬deutscher Kulturrat Bonn, München, 1988, 388 S.Waith, Richard:,Auf der Suche nach Heimat - Die Rußlanddeutschen“ deutsch-englisch, 304 S./russisch, 155 S., Dülmen, 1990Warkentin, Johann (Hrsg.):„Rußlanddeutsche - Woher? Wohin?“ Berlin, 1992, 259 S.Wisotzki, Elisabeth:„Die Überlebensstrategie der rußlanddeutschen Mennoniten“, Diss. 1992, 228 S., erscheint demnächst in Buchform* Zu beziehen bei der Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland, 70188 Stuttgart 1, Raitelsbergstr. 49.Hier ist auch Kartenmaterial zu allen Siedlungsgebieten der Rußlanddeutschen erhältlich.** Zu beziehen bei der Mennonitischen Forschungsstelle Weierhof, 67295 Bolanden/PfalzBund der Vertriebenen1.11.1993 Часть 1:
https://ok.ru/group/60306175098978/topic/155034122100066
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